1989. Der Fall der Mauer liegt schon ein paar Jahre zurück. Ebenso die Zeiten, in denen in vielen Keller und Ladenräumen um die Oranienburger Straße in Berlin-Mitte illegale Kneipen enstanden und abends allerhand los war. Das Kunsthaus Tacheles in der Ruine eines ehemaligen Kaufhauses mit seinem großen Hinterhof war der Treffpunkt vieler Nachtschwärmer und Lebensmittelpunkt von dort ansässigen Künstlern in einer Atmosphäre aus Kreativität, farbig besprühten Wänden, Uringeruch im Treppenhaus, Dope-Schwaden und Becksbier. Hier wurden wahnsinnige Statuen geschweißt und Bilder gemalt. Gegenüber war das legendäre Obst und Gemüse. Die kreativen Ostberliner und kulturell interessierte, betuchtere Zugereisten zog es seinerzeit zum Wohnen oder zum Eröffnen einer Galerie in die Auguststraße. Selbst die öde Gipsstraße galt als hipp. Warum, weiß der Geier. Irgendwann machte sich Investoren daran, die Hackeschen Höfe zu restaurieren. Um den Hackescher Markt siedelten sich kostbare Läden an. Die Boutiquen führen keine Marken, sondern Label. Ein Ausverkauf heißt hier ‚Sale‘. In der Oranienburger Straße suchen Nutten nach Freiern. Hier und dort wurde renoviert und neu gebaut.
2012. Mit dem Wagen geht es vom nahegelegenen Ortsteil Wedding zur Oranienburger Straße. Mal gucken, was aus der Gegend geworden ist. In der Monbijoustraße gibt es einen Parkplatz für 0,50 € pro Viertelstunde. Dort beginnt eine kleine Stadtwanderung auf der Oranienburger Straße zum Hackescher Markt, in die Hackeschen Höfe, hin und zurück auf der Rosenthaler Straße, Gipstraße, Auguststraße bis zum Tacheles und auf der Oranienburger Str. zurück zum Wagen.
Längsseits des schmalen Endes der Oranienburger zwischen Monbijouplatz und Hackescher Markt sind Boutiquen und kleine Restaurants, bzw. imbissartige Essensausgaben angesiedelt. Die Gehwege sind für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich schmal. Ein Parktplatz ist dort kaum zu bekommen. Jeder Paketzusteller stoppt den KFZ-Verkehr; es geht nicht anders. Die Hackeschen Höfe sind eher langweilig, vor allem für diejenigen, die den Werdegang nicht miterlebt haben. Die Fassade an der Rosenthaler Straße mit dunklen Schildern mit groß in Gold darauf gedruckten Namen machen was her. Aber innen sind die Hackeschen Höfe eine Enttäuschung.
Der Hackescher Markt mit seinem S-Bahnhof ist ein Platz, der vor allem dem gastronomischen Angebot gewidmet ist. Hierher verschlägt es Besucher von der nahegelegenen Museumsinsel oder dem Alexanderplatz und reichlich Touristen.
Der Gang durch die Gipsstraße und Auguststraße läßt die Frage aufkommen, warum dieses Gebiet in all den Jahren seit dem Ende der Teilung der Stadt in Ostberlin und Westberlin nicht weitergekommen ist. Es ist schwer nachvollziehbar, dass viele begüterte Menschen vorzugsweise hierher ziehen möchten. Neben kosmetisch aufgepäppelten alten Fassaden, teilweise lieblos gespachtelt und hell zugetüncht, gibt es Townhouses aus steriler schnörkelloser Architektur mit großen getönten Glasflächen, Tiefgaragen, sparsamen Edelstahlapplikationen und naturholzbelassene Holzbohlen, die nach wenigen Jahren grau und unansehnlich werden. Gegenüber solchen öden, aber teuren neuen Residenzen, liegen auf der anderen Straßenseite heruntergekommene Gebäude und Plattenbauten mit angestaubten DDR-Charme. Die Häuseransammlung wirkt insgesamt geschmacklos. Die Fassaden von einigen vor wenigen Jahren renovierten Häusern sehen mittlerweile schmuddelig aus. Messingfarbenen Klingelschilder und Firmenandressen unter Glas gibt es hier häufig. Doch die vielen Autos in den schmalen Straßen mit den engen Bürgersteigen im schlechten Zustand nehmen dem Gebiet jede Großzügigkeit. Weit und breit ist kein vernünftiger Park vorhanden. An manchen Stellen stehen Bauschuttcontainer und Baustellen-Absperrungen. Vielleicht dienen letztere nur zur Warnung und es wird gar nicht an Sanierung gedacht?
In der Auguststraße befindet sich ein Hotel mit rotem Läufer im Eingangsbereich. Auf der anderen Seite der schmalen Straße führt ein Tor auf das Gelände des abgewirtschafteten Postfuhramts. Hier ist alles alt und heruntergekommen, mitten in der City in sogenannter bester Lage. Der Gang über den Hof macht sprachlos. Wie kann es angehen, dass hier nichts zustande gekommen ist? Ein Land mit vielen Arbeitslosen und dem Drang, anderen notleidenden europäischen Staaten aberwitzige Geldsummen in unbegreiflichen Milliardenmengen zukommen zu lassen, ist offenbar nicht in der Lage, seine eigene Hauptstadt baulich in einen ordentlichen Zustand zu bringen.
Beim Tacheles an der Oranienburger Straße zeigt sich die Stadt je nach Blickrichtung zwischen schön bis potthäßlich. Neben dem Tacheles ist eine Imbisshütte und daneben eine große Brachfläche, aus der längst ein Park zur Erholung hätte entstehen können. Stattdessen schwankt dessen Nutzung zwischen Flohmarkt und zum Abstellen von Autos. Gegenüber haben sich diverse Restaurants angesiedelt. Mal sehen, ob sie die Schließung des Tacheles lange überleben werden. Noch kommen die Touristen, zumindest am Wochenende und vor allem im Sommer.
Hier der Pressetext des Kunsthauses:
Berlin, 05.03.2012
Kunsthaus und Künstler werden eingezäunt
Am Montagmittag 05.03.2012 haben Mitarbeiter der Berliner Zaunbaufirma Lahr, Gawron GmbH den Haupteingang des Kunsthauses Tacheles ausgemessen, um dort einen Zaun zu errichten.
Damit befänden sich die 30 Ateliers, diverse Ausstellungsräume und ein Theatersaal sowie mehr als 50 im Tacheles arbeitende Künstler mit ungekündigten Verträgen und deren Kunstwerke hinter Gittern.
Für das umfangreiche, von tausenden Interessierten täglich besuchte, Programm des Kunsthauses, wie die gerade stattfindende Tacheles Biennale 2012 und deren zahlreiche Rahmenveranstaltungen, würde die Einzäunung des Eingangs- und Fluchtweges das unmittelbare Aus bedeuten.
Der Auftrag für die Sperrung des Tacheles ohne gerichtliches Urteil ergeht durch die Anwälte (Schwemer. Titz und Tötter sowie RA Michael Schulz) der HSH Nordbank und mutmaßlicher Weise der Investoren Jagdfeld und Harms Müller Spreer, die das Kunsthaus Tacheles ohne Räumungstitel gegen die Künstler “kalt” räumen sollen. Es ist nicht davon auszugehen, dass für die Zaun- oder Maueranlage eine Baugenehmigung oder Erlaubnis des Denkmalamtes vorliegt.
Die Künstler des Tacheles bewachen nunmehr das Haus und speziell die Notausgänge und Eingänge 24 Stunden täglich. Die Baubehörden wurden eingeschaltet und die Künstlergemeinschaft Tacheles ruft auf Solidaritätserklärungen an die Verantwortlichen zu versenden.
Das Programm des Kunsthauses wird trotz drohender Schließung weiter fortgesetzt.
Die Bank, Investoren und deren Anwälte nehmen Opfer billigend in Kauf sollten sie die Haupteingänge zumauern oder mit Zäunen versperren lassen, die ausführende Baufirma sowie das Securitypersonal ebenso, im Tacheles herrscht 24 Stunden täglich Kunstbetrieb.”
Mehr Informationen und Adressen an die man eine Protestmail schicken kann mit Vorschlag eines möglichen Protestschreibens gibts hier: http://kritikdesign.blogspot.com/2012/03/kunstler-sollen-im-kunsthaus.html
Der Kommentar paßt zum Artikel. Die olle Ruine wird zum Streitgrund. Die alte Tacheles-Romantik gehört doch längst in die Vergangenheit. Ein Mythos und eine Touristenfalle. Eine klärende Entscheidung ist längst überfällig. Sollte das Tacheles weiter bestehen, und Künstler dort zu extrem günstigen Konditionen ihre Ateliers bekommen, müßte man die individuelle Nutzungsdauer auf 5 Jahre beschränken, um den Laden frisch zu halten. Der Mief des abgestandenen, trashigen, immer gleichen Kunstzirkels braucht neue junge Künstler oder man nutzt das Gebäude für etwas völlig anderes.