1 Januar, 8.30 Uhr. Ich verlasse die Wohnung, um die Spuren der Nacht zu fotografieren. Die Reste der Knallerei, Sektflaschen, Gläser und anderes säumen die Straßen. Zersplittertes Glas, angebranntes Böllerpapier und zahllose angesengte dünne Holzleisten von den Raketen liegen herum.
In meiner Jugendzeit strolchten um diese Zeit Jungs umher, um Feuerwerk zu suchen, das nicht abgebrannt war. Böller mit kurzen Lunten, die durch den Aufprall nach dem Wegwerfen ausgingen, verlorengegangene Knallerpäckchen und dergleichen waren immer zu finden. Als Zehnjährige entwickelten wir ein scharfes Auge für solche Funde, die wir vor den Eltern verbargen, und später für Schießpulverexperimente einsetzten.
An diesem Morgen, so viele Jahre später, sehe ich nur einige wenige Erwachsene auf der Straße. Ein paar Hunde werden spazieren geführt.
Es gibt reichlich Fotomotive, die nur an diesem Tag aufzunehmen sind. Schon morgen wird vieles weggeräumt sein. Zwischen zwei Sektflaschen, die als Abschussrampen für Raketen dienten, steht ein Glas mit zwei Limonenscheiben. Ein paar Schritte weiter stehen weitere Sektflaschen, die am Flaschenhals etwas versengt sind. Hier wurden in der Nacht viele Raketen hochgejagt. Aber was sehe ich dazwischen? In einer Sektflasche steckt abschussbereit eine große Rakete mit intakter Lunte. Die Kids würden sich darüber freuen, doch weit und breit ist niemand zu sehen. In meinen Kindertagen wäre das Teil längst abgezischt. Es nieselt leicht. Das tut dem Feuerwerkskörper nicht gut. Mit gemischten Gefühlen nehme ich die Rakete, hebe eine orangefarbene Kappe auf und stecke sie über die Lunte. Der Vorgang hat die Anmutung einer Unreifeprüfung, peinlich; hoffentlich bekommt das keiner mit. Aber es ist wie Pilzesammeln. Hast du das einmal drauf, wirst du es nie wieder los; der Blick bleibt stets geschärft. Ich lege das Teil in mein Auto und mache mich wieder mit der Kamera auf den Weg.
Nach wenigen Schritten bin ich am Nordufer. Auf dem Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal fährt ein Ausflugsdampfer in Richtung Innenstadt vorbei. Wer mag den am 1. Januar gebucht haben? Die halbe Nation schläft einen Rausch aus, da wird doch keiner Dampfer fahren wollen. Fast wäre ich auf etwas getreten. Ich blicke runter und brauche einen Augenblick, bis mir klar wird, was da liegt. Eine große nasse Klarsichtverpackung voll mit Feuerwerk aller Art. Darunter liegt noch eine und direkt daneben ein Paket mit langen Röhren. Es ist noch eingeschweißt. Wie besoffen muss jemand gewesen sein, sich für Zig Euro Feuerwerk zu kaufen, um es am Straßenrand liegen zu lassen? Es ist kaum zu glauben. Ich hebe es auf und gehe zu meinem Wagen. Ein Mann kommt mir entgegen und schaut die Sachen begehrlich an. „Wie, das lag da Ufer herum? Ich hatte mich schon gefragt, warum Sie sich gebückt hatten.“ Wären stattdessen ein paar Jungs vorbeigekommen, hätte ich das Feuerwerk ‚unauffällig‘ auf ihren Pfad gelegt, aber es kamen keine. Was ist los mit den Kids? Hätte ich einen Sohn im Zündelalter würde ich mir ernsthaft Sorgen um ihn machen, wenn der nicht am Neujahrstag früh mit einem Feuerzeug und einer Tüte aus der Wohnung schliche, um mit einem Klassenkameraden loszuziehen und uns später das Blaue vom Himmel herunterzuschwindeln.
Die Berliner Stadtreinigung hat reichlich Müllbehälter an den Straßen verteilt. Diese orangen Behälter scheinen in der Silvesternacht einen besonderen sportlichen Ehrgeiz hervorzurufen. Werden ihre Bodenklappen mit kräftigen Böllern aufgesprengt oder hat jemand eine passende Zange dabei? Vermutlich sind die Köpfe der Verursacher genauso hohl wie die von ihnen geleerten Müllbehälter.
Gegen halb zehn komme ich am Föhrer Eck vorbei. Der Bürgersteig ist mit einer dicken Schicht durchweichtem roten Böllerpapier bedeckt. Eine Tür steht offen, der Qualm muss raus. Aus dem Inneren schallt es: „Allein in Mexiko, Anita … die Companeros mit ihren Sombreros, nun gehörst du mir …“ Ein Gruppe fideler älterer Gäste gröhlt den Costa Cordalis Song mit Inbrunst. Hier wird mit Durchhaltevermögen gezecht. Das schaffen die ohne Red Bull und Designerdrogen.
Ein paar Häuser weiter steht ein Mann im weißen Hemd und lilafarbener Weste auf seinem Balkon und spielt fremdländische Klangfolgen auf seiner Flöte. Zwischendurch ruft er mehrmals: „Was seid ihr für Männer?“ Offenbar ist er noch auf seiner Party, die er längst verlassen hat.
Wir sind früher auch losgezogen, um Kracher zu suchen. Die Dicken Böller haben wir oft aufgebrochen und einen Haufen Schwarzpulver in ein Gefäß gegeben, um es mit einem Mal zu zünden. Regen an Neujahr war immmer gefürchtet. Dadurch weichte das Feuerwerk auf oder die Lunten waren zu feucht, um sie gleich in Brand zu setzen. Schnee und Frost waren ok. Auf dem festen Schnee waren Böller immmer gut zu finden. Dass die Berliner Jungs sowas nicht mehr machen, finde ich erstaunlich.
Frohes Neues!
Udo
Cooler Artikel. Genauso ist es im Sprengelkiez.
Gut, dass meine Jungs nicht auf Knallersuche gehen. Denen würde ich den Hosenboden stramm ziehen. Feuerwerk müßte sowieso verboten werden. Diese Knallerei ist viel zu gefährlich. LG Marielle
Klar, wenn was passiert ist es schon schlecht, aber die Verbote machen es doch gerade interessant es trotdem zu tun. Meine Kinder würde ich entsprechend informieren oder mich mit ihnen zusammen auf die Suche machen. Ein Verbot ist bewikt da doch nichts. Heute, wo alles zu haben ist, scheint auch die Suche nach Feuerwerk nicht mehr interessant zu sein. Schade eigentlich. Schöner Bericht. ich habe als Kind auch am Neujahrsmorgen gesammelt. 🙂
@Marielle : Autofahren ist gefährlich , Rauchen , Alkohol usw. Alles verbieten !